Zwei Turnerinnen aus der Ukraine trainieren im TZFF – bald steht ein erster Auftritt an

Quelle: St. Galler Tagblatt vom 20.04.2022, Urs Huwyler

 

Es könnte eine Wettbewerbsfrage sein: «Beobachte die jugendlichen Turnerinnen des Trainingszentrums Fürstenland für Frauen (TZFF) und finde heraus, welches die beiden ukrainischen Turnerinnen sind.» Die Chancen auf den richtigen Tipp lägen vielleicht bei 20 Prozent. Von der Frisur bis zur Trinkflasche ist alles gleich, sie tragen ein TZFF-Dress, bewegen sich inmitten der Gruppe, turnen die gleichen Übungen, verstehen vom Tonfall her, ob Cheftrainerin Marianne Steinemann lobt oder kritisiert.

Die achtjährige Melaniia liesse sich herausfinden, weil ihre Mutter mit Hilfe des iPhones gewisse Anweisungen übersetzt und sich dann zur Tochter begibt. Mariia (14) erhält Unterstützung von den älteren Turnerinnen, kopiert deren Bewegungsabläufe. Notfalls unterhalten sie sich die Teenager mit allerlei Gesten oder in Mundart, was im Turnprogramm zu Lachpausen führen kann.

Schnell wird klar, das Trio fühlt sich wohl in Mogelsberg. «Sie reisen jeweils mit den öffentlichen Verkehrsmitteln aus St. Margrethen an, sind froh und dankbar, einige Stunden hier verbringen zu können», erzählt Marianne Steinemann. Als die Anfrage kam, ob dies aus Sicht des TZFF möglich sei, musste sie nicht überlegen.

«Sie sind bei uns jederzeit willkommen. Wenn wir ihnen damit eine Freude machen können, umso schöner.»

Die Mädchen sind mit ihren Müttern aus Kiew geflüchtet, leben nun im Rheintal bei der Schwester des ehemaligen Schweizer Spitzenturners Peter Rohner – er war dreifacher Olympia-Teilnehmer und gehörte beim legendären Jack Günthard zu den Nationalteam-Eckpfeilern. Zufällig landete die Anfrage für die sportliche Aktivität also nicht beim TZFF.

Warten auf ein Lebenszeichen

Ganz ausblenden lässt sich der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine in der Mogelsberger Gymnastikhalle allerdings nicht. Marianne Steinemann stockt beim Blick zu Melaniias Mutter fast der Atem und die Betroffenheit ist ihr anzusehen, herauszuhören. «Sie wartet immer auf ein Lebenszeichen ihres Mannes, weiss nicht, wo er ist, wie es ihm geht. Eine unerträgliche Situation, die sich leider nicht ändern lässt. Ich würde an ihrer Stelle wohl durchdrehen.»

Umso wichtiger sind für die integrierten Gäste die Stunden in der aufgestellten Turnerschar. Die Mädchen bringen eine Grundtechnik mit, sind ehrgeizig und lernfähig. Mariia hat in jener Kiewer Halle trainiert, in welcher der Film «Olga» gedreht wurde. Eine 15-jährige ukrainische Turnerin lebt darin im Exil in der Schweiz. Dann bricht in Kiew der Euromaidan-Aufstand aus. Während sich das junge Mädchen auf die Europameisterschaft vorbereitet, stellt die Revolution alles auf den Kopf.

Melaniia und Mariia bereiten sich nicht auf internationale Titelkämpfe vor, aber am 22. April plant Marianne Steinemann mit den Turnerinnen einen Show-Auftritt an der Offa. Die beiden Ukrainerinnen mit ersten Deutschkenntnissen werden nicht dabei, sondern mittendrin sein. Melaniia soll zudem einen Tag später in der Turnfabrik Frauenfeld ihren ersten Wettkampf bestreiten. «Es ist wichtig für sie, dass sie sportliches Ziel haben, spüren, dass sie zu uns gehören», ist die Cheftrainerin überzeugt.

Vor einigen Tagen hat sich das Ukraine-Trio beim Abschied von der Galerie in der Halle auf Schweizerdeutsch verabschiedet und bedankt. «Das hat uns gezeigt, dass sie gerne hier sind, sich jeweils auf das Training freuen», sagt Marianne Steinemann.