Was ist es uns wert?
Liebe Kunstturnfreunde
Haben Sie die Kunstturn WM in Liverpool am Fernsehen mitverfolgt? Oder waren Sie allenfalls sogar live mit dabei am diesjährigen Swiss Cup? Wahnsinn, was da geturnt wurde. Für mich ist es immer wieder aufs Neue erstaunlich, wie sehr sich diese Sportart Jahr für Jahr technisch weiterentwickelt, wie noch schwierigere Elemente geturnt werden und immer wieder neue und junge Gesichter auf dem internationalen Turnparkett auftauchen und unglaubliche Leistungen abrufen. Und es sieht immer einfach, locker und flockig aus. Dabei wissen wir alle, dass solche Top-Leistungen nur ganz wenigen gelingen und auch nur, wenn das ganze System dahinter einwandfrei funktioniert. Vom kleinen Mädchen, das irgendwo auf der Welt in einer Halle mit Kunstturnen beginnt, über Eltern, die diese intensiven Trainings mittragen, von einem Schulsystem, das ebenfalls mitmacht, über fähige Trainer, einem stabilen Körper, genug Talent, Motivation und und und. Ja wir wissen es.
Und wie sieht es mit unserem Schweizer Spitzensport-System aus? Ist es fähig und flexibel genug, diesen rasanten Entwicklungen im Kunstturnsport Rechnung zu tragen? Und akzeptiert unsere heutige Gesellschaft überhaupt noch diese Art von „Kinder-Spitzensport“, wie es das Kunstturnen ist? Wo für einen späteren Erfolg bereits im zarten Kindesalter diszipliniert und intensiv trainiert werden muss?
Als Kunstturnverein sind wir «Anbieter» dieser wunderbaren Sportart, stehen also ganz unten, bzw. am Anfang einer sportlichen Karriere. Das heisst, bei uns werden die ersten Kunstturn-Schritte gemacht, die ersten Weichen gestellt, die Mädchen sind noch ganz jung. Wir verkaufen ein Produkt, das aus unserer Sicht nicht für alle geeignet ist und ein gesunder Umgang, ein gesundes Training eine herausfordernde Gratwanderung bedeutet. Gleichzeitig geht der gesellschaftliche Erziehungstrend in Richtung „jeder kann alles erreichen, man muss es nur genug wollen“. Jedes Kind soll eine Chance erhalten. Das finden oft auch die Eltern. Eigentlich ein wunderbares Lebensmotto. Im Breitensport absolut richtig – im Spitzensport eine gefährliche, wenn nicht sogar verantwortungslose Haltung.
Unser aller Ziel sollte viel mehr sein: die richtigen Talente fördern und nicht einfach mengenmässig Listen mit Namen abgeben, nur um Vorgaben zu erfüllen, Eltern glücklich zu machen oder Fördergelder zu erhalten. Denn hinter jedem Namen steht ein Mädchen mit dem Recht auf einen gesunden Körper und Geist. Leider unterstützt momentan auch unser System eine Haltung, bei der Quantität mehr zählt als Qualität. Auch wenn es um verantwortungsvolle Trainerarbeit geht. Die Geldflüsse konzentrieren sich viel zu sehr auf quantitative Faktoren. Das frustriert. Das Kunstturnen insgesamt zahlt dafür einen hohen Preis. Nämlich den der Qualität.
Qualität muss einen Preis haben, mit günstig kommt man im Spitzensport nicht weit. Im Gegenteil. Das Niveau ist so unglaublich gestiegen, dass nur professionell ausgebildete Trainer und Trainerinnen bereits mit den ganz jungen Turnerinnen strukturiert und intensiv arbeiten müssen. Die Grundlagenarbeit muss zwingend stimmen. Kunstturnen ist nicht einfach ein etwas intensiveres Geräteturnen. Wer das nicht versteht, hat die Entwicklung im Kunstturnen bzw. die Komplexität dieser Sportart nicht verstanden. Wir sind zwar ein Teil eines riesigen Turnverbandes, aber Kunstturnen hat so wenig mit all den Breitensport-Turnangeboten zu tun wie die Skifahrkenntnisse eines Normalbürgers mit denen unserer Skistars. Das sind zwei komplett verschiedene Welten. Wollen wir im Kunstturnen weiterhin international mitreden, müssen wir viel agiler, schneller, dynamischer und professioneller werden. Auf allen Stufen. Die Konkurrenz schläft nicht. Es braucht professionelle Trainerarbeit bereits an der Basis. Das kostet. Das ist richtig so. Das muss sein. Qualität kommt niemals gratis.
Somit stellt sich die Frage: Was ist uns diese Qualität wert? Ist sie uns überhaupt etwas wert? Was ist dem Verband das Kunstturnen und die Qualität wert? Was ist uns als Gesellschaft Kunstturnen auf internationalem Niveau wert? Drängende Fragen, deren Antworten die zukünftige Entwicklung des Kunstturnsport in der Schweiz steuern werden. Und damit auch unsere. Die Zukunft beginnt heute.
